"Yahoo Hack Day" Wenn Yahoo hacken lässt
von Karsten Lemm, Sunnyvale
In 24 Stunden für eine Suchmaschine neue Funktionen zu entwickeln - das war die Aufgabe für die Teilnehmer des "Yahoo Hack Day". Eine der absurdesten Ideen gewann: eine Handtasche für Blogger.
Von Vancouver, Kanada, nach Sunnyvale in Kalifornien sind es ziemlich genau 1584 Kilometer, und wer sich beeilt, kann die Strecke mit dem Auto in knapp 16 Stunden schaffen. Robert, Jason und Peter haben es ausprobiert, und es gab keinen Grund für sie, irgendwo anzuhalten, um die schöne Landschaft am Pazifik zu bewundern. Die drei Freunde hatten ihr Ziel fest im Blick: die Firmenzentrale des Internetriesen Yahoo im Herzen des Silicon Valley. Dort sitzen sie nun am Freitagabend, um 200 Dollar ärmer, weil sie kurz hinter der Grenze ein Ticket für zu schnelles Fahren kassiert haben. "Wir waren mit 140 Stundenkilometern unterwegs, wo 95 erlaubt waren", erzählt Jason Barnes und sein Blick sagt: Na und? "Es war zwei Uhr morgens!" Doch das hat den Verkehrspolizisten nicht gekümmert, sie mussten trotzdem zahlen.
Hacker, Beck und Handtaschen "Tja, das ist ein teurer Ausflug geworden", sagt der 25-jährige Web-Designer mit einem Schulterzucken - aber keine Frage, die Veranstaltung, für die sie hier sind, ist es wert. Die T-Shirts, die Jason und seine Freunde tragen, sagen schon alles: "HACKDAY" schreit es schwarz auf weiß in Großbuchstaben von ihrer Brust. Sie sind drei von 500 Auserwählten, die mitmachen dürfen bei einem Programmiermarathon der besonderen Art: Yahoos erstem öffentlichen "Hack Day". 24 Stunden bekommt jedes Team, um etwas Neues zu stricken aus den diversen Diensten, die das Unternehmen so anbietet - von E-Mail über Routenplaner bis hin zum Fotoservice Flickr und dem Veranstaltungskalender Upcoming.org. "Dies ist eine Chance, die es nur einmal im Leben gibt", schwärmt Jason, der seine Einladung dem Blog "Jayandsilentrob.com" verdankt, das er zusammen mit seinem Kumpel Robert Ellis schreibt. "Hier sind nur die Besten und Schlauesten, dies ist das Zentrum des Internet-Universums."
Und Google? Von Google redet niemand an diesem Wochenende, obwohl der Yahoo-Konkurrent nur fünf Autominuten entfernt beheimatet ist. "Google ist eine Suchmaschine", sagt Jason, "Yahoo kann so viel mehr." Wie viel mehr, will er mit seinen Freunden zeigen, indem sie Fotos von Flickr mit Landkarten aus dem Routenplaner kombinieren - "Mash-up" nennt sich so etwas im Programmierer-Jargon. "Mash-ups" sind schwer angesagt im Internet. Es gibt Tausende von Websites, die unterschiedliche Informationen von anderen Websites kombinieren, und die großen Internetfirmen, von Amazon bis Yahoo, geben sich alle Mühe, ihre Seiten dem Rest der Welt zu öffnen.
Als Hacken noch nichts Böses war Denn je mehr neue Angebote daraus entstehen, umso besser für die Firma, deren Dienste dabei benutzt werden und Fans gewinnen. Plötzlich ist Hacken nichts Böses mehr, sondern im Gegenteil sehr willkommen. "Früher bedeutete Hacken, flink und gewitzt programmieren zu können", erklärt Ash Patel, Yahoos Entwicklungschef. Genau so sei auch der "Hack Day" gemeint: "Wir verstehen das als Einladung an die Programmierer: Kommt her und bedient euch - nehmt, was Yahoo zu bieten hat, und erschafft daraus etwas Neues, das größer ist als seine Einzelteile."
So schlängeln sich nun viele Meter Verlängerungskabel durch das Gebäude C, in dem normalerweise die Kantine untergebracht ist, damit die Rechner der Hacker genügend Saft haben, um die Nacht durchzuhalten. Die Programmierer selbst stärken sich mit Bier und Pizza, ehe sie nach draußen strömen, wo eine Bühne aufgebaut ist. Dort spricht David Filo, einer der beiden Yahoo-Gründer, ein paar Worte zur Begrüßung. "Vielleicht der größte Hack", sagt er, "ist die Tatsache, dass es uns gelungen ist, Beck hier herzuholen." Die Menge jubelt, schon setzt die Band ein und spielt die markante Melodie zum größten Beck-Hit: "I'm a Loser, Baby."
Schlafen kann man später Die meisten Hacker sehen diese Aussicht eher locker, sie rocken, tanzen, gehen mit. Nur keine Eile, die Nacht ist lang genug. Ein paar Leute haben Zelte aufgeschlagen, da drüben auf dem Rasen, aber die meisten werden kein Auge zu tun und durchprogrammieren. So wie Alex Gourley und seine Freunde. Sie haben sich vorgenommen, auf der Basis von Yahoo Maps eine Art Google Earth zu basteln. "Wir wollen die Satellitenfotos nehmen und sie auf eine Kugel projizieren, damit man rein- und rauszoomen kann", erklärt er. "Leicht ist es nicht, aber wir hoffen, dass wir's in einer Nacht schaffen können." Seine Freundin Winnie ist hauptsächlich wegen des Beck-Konzerts mitgekommen, und ob es am Ende für eine der Siegerprämien reicht, die am Samstag verteilt werden - man wird sehen. "Wir hoffen eigentlich nur, dass es irgendwer interessant findet", sagt Alex' Kumpel Jey Kottalam. "Die Leute, die nur wegen der Preise hier sind, sind wahrscheinlich auch beim Beck-Konzert drinnen geblieben."
Wer braucht schon das Konzert? Stimmt. Die Kanadier zum Beispiel haben die Chance genutzt, sich ein besseres Plätzchen zum Programmieren zu suchen, während die meisten anderen draußen rocken. Sie sind an einen Tisch umgezogen, an dem sie sich bequem ausbreiten können. "Ich fahre doch nicht 16 Stunden, um mir Beck anzuhören", sagt Robert Ellis. "Ins Konzert gehen kann ich immer noch." Erstmal zählen andere Dinge: kryptische Kürzel wie HTML, Ajax und CSS - Programmiercode, aus dem die Web-Entwickler ihre neuen Internetdienste zusammenstricken. Im ersten Stock gibt es regelrechte Klassenzimmer, in denen Yahoo-Mitarbeiter ihren Gästen erklären, wie man Flickr & Co. am besten hackt.
In einem dieser Zimmer steht David Filo, der vor elf Jahren ein Internet-Imperium gründete, indem er mit seinem Freund Jerry Yang zusammen Links sammelte, ordnete und ins Netz stellte. Aus dem simplen Online-Verzeichnis ist mittlerweile ein Unternehmen mit über 11.000 Mitarbeitern und gut fünf Milliarden Dollar Jahresumsatz geworden - nicht zuletzt, weil Yahoo sich immer wieder neu erfunden hat. "Wir haben den Hack Day schon ein paar mal intern abgehalten", erzählt Filo, ein jugendlicher 39-Jähriger, der als "Chief Yahoo" die Geschicke der Firma weiter im Hintergrund mitlenkt. "Der Gedanke war immer, zu sehen, was sich mit Yahoo alles anstellen lässt. Diesmal haben wir beschlossen, Entwickler von draußen einzuladen, um neue Perspektiven zu gewinnen. Je verrückter die Ideen, desto besser."
Die Blogger-Handtasche Die verrückteste, die beste Idee, die Filo an diesem Abend bisher gesehen hat, ist eine Handtasche. Diana Eng, Emily Albinski und Audrey Roy, drei Freundinnen aus dem Silicon Valley, hocken in einer Ecke im ersten Stock und sind gleichzeitig damit beschäftigt zu nähen, zu löten und zu programmieren. Schließlich soll ihre Handtasche, wenn sie fertig ist, alle paar Schritte automatisch ein Foto machen und es an Flickr schicken. Dort sind sie dann unter "Blogging in Motion" zu bestaunen. Wozu? Na, ist doch klar: "Abends sieht man, wo man überall war, und gewinnt vielleicht ganz neue Einblicke in sein Leben", sagt Eng. Die 23-Jährige, die Mode-Design studiert hat, ist gerade damit beschäftigt, das Nokia-Handy, das in der Tasche steckt, mit einem Schrittmesser zu verdrahten. Der Chip, der die Schritte zählt, wird über die Programmiersprache Basic ausgewertet. "Das geht ganz einfach!", versichert Eng mit einem aufmunternden Grinsen. "Das kann eigentlich jeder."
Zumindest jeder hier beim Hack Day. Kniffliger ist da schon das automatische E-Mailen der Fotos vom Handy an Flickr. Das müssen die drei Freundinnen bis Samstagnachmittag um 14:30 Uhr hinbekommen haben - dann ist Abgabeschluss für alle Projekte. "Vielleicht machen wir nachher ein Nickerchen bei Audrey, die wohnt nur ein paar Kilometer entfernt von hier", sagt Emily Albinski, ehe sie wieder zum Lötkolben greift. Weiter geht's, die Konkurrenz schläft ja auch nicht.
Kollektives Gähnen Der nächste Tag ist wolkenverhangen und kühl, und über dem Yahoo-Hauptquartier hängt ein kollektives Gähnen. Es ist drei Uhr nachmittags, und auf den Programmier-Marathon im Dunkel der Nacht folgt ein neuer Ausdauer-Wettbewerb im Rampenlicht auf der Bühne: 52 Teams wollen ihre Projekte vorstellen. Jedes bekommt zwei Minuten Zeit - 120 Sekunden vor den Augen der versammelten Blogger, Reporter und vor allem der Jury, die aus Ober-Yahoos wie David Filo und Investoren aus dem Silicon Valley besteht.
Die Kanadier haben viel Red Bull getrunken, um hellwach zu sein für diesen Moment. Sie haben den Großteil der Nacht durchgearbeitet, aber sind trotzdem nicht ganz fertig geworden mit ihrer Mischung aus Flickr und Yahoo Maps. "Wir wussten, dass es schwierig wird, das in so kurzer Zeit zu schaffen", sagt Robert. "Aber es geht ja auch nicht ums Fertigwerden, sondern darum, etwas Neues anzufangen." Mag sein. Trotzdem fehlen einige, die gestern mit großen Ideen angetreten sind. Von den Programmierern, die Yahoo Maps in Google Earth verwandeln wollten, ist jedenfalls nichts zu sehen. Die Parade der Projekte, die ein vorzeigbares Stadium erreicht haben, reicht von Obskurem, das Hacker für Hacker entwickelt haben, bis zu Ideen, die auch Normalsterbliche begreifen können - etwa die Kombination aus Yahoo Mail und Flickr. Die Frage nach dem Warum stellt man in den meisten Fällen besser nicht.
Am Ende kassieren die Kanadier Applaus, aber keinen Preis. Die iPods und Flachbildschirme, die von der Jury verteilt werden, gehen an andere. Ein Hacker gewinnt für einen Service, der beim Routenplaner anzeigt, wann es Zeit wird, bei einer langen Autofahrt die Frequenz zu wechseln, wenn man weiterhin den gleichen Sender hören will. Eine andere Teilnehmerin wird dafür belohnt, dass sie sich über Yahoo lustig macht. Der Dienst "Yahoo 360", bei dem Nutzer ihre eigene Internetseite gestalten können, "ist Myspace für Senioren", frotzelt die Web-Designerin Winona Tong, "und wir wissen ja alle, dass Yahoo neidisch ist auf die vielen Besucher, die Myspace hat." Also hat sie Yahoo 360 mit Myspace kombiniert, nur so zum Spaß, und die Jury zeigt Humor.
And the winners are... Der Hauptgewinn aber, ein wandfüllender Flachbildschirm, geht an die Entwicklerinnen der fotografierenden Handtasche. Diana, Emily und Audrey strahlen überglücklich in die Kameras, die sich ihnen entgegenstrecken, und machen sich dann eilig auf den Weg nach Mountain View: Dort gibt es ein Konzert; es spielt ein gewisser Beck, und das können sie sich nicht entgehen lassen. Die Party, die eigentlich noch bei Yahoo stattfinden sollte, fällt ohnehin aus. Der DJ legt zwar tapfer Platten auf, aber niemand tanzt. Die meisten Hacker haben sich längst verdrückt, nur ein paar Unermüdliche verlieren sich noch in der Halle von Gebäude C und unterhalten sich darüber, was als Nächstes aus ihren Projekten werden könnte.
"Wir hoffen, dass Flickr vielleicht Interesse hat, unsere Idee zu übernehmen", sagt Leah Culver, die zusammen mit Tantek Çelik einen Service entwickelt hat, mit dem Flickr-Nutzer jedes beliebige Foto als Postkarte verschicken können - dafür gab es von der Jury zur Belohnung einen iPod. Schon möglich, dass Yahoo die eine oder andere Idee aufgreifen werde, sagt David Filo. Festlegen will er sich nicht, Sinn des Hack Day sei ja auch gar nicht gewesen, konkrete Projekte für Yahoo zu finden, sondern den Horizont zu erweitern. "Keiner unserer Mitarbeiter wäre je mit einer Nähmaschine zur Arbeit gekommen, um eine Handtasche zu basteln", sagt Filo. "Leute, die nicht hier arbeiten, kommen auf ganz andere Gedanken."
Ein paar Schritte weiter sitzen Robert, Jason und Peter zwischen leeren Red-Bull-Dosen, Kaffeebechern und Papptellern mit Überresten des Mittagessens. Sie sind müde, aber nicht entmutigt. "Einige Juroren haben uns erzählt, dass wir gut im Rennen lagen", sagt Robert. "Auf jeden Fall haben wir viel gelernt. Das nehmen wir alles mit nach Hause und denken uns etwas Neues aus. " In 16 Stunden, auf 1584 Kilometern Heimfahrt, kann einem ja so einiges einfallen.
Quelle: Stern.de